Die Visuelle Soziologie Pierre Bourdieus - Gebrauchsweisen des Archivs
Die Fotografien des Archivs wurden - abgesehen von wenigen Ausnahmen - von Pierre Bourdieu in den Jahren 1957–1961 in Algerien und 1961-1962 in Lasseube (Béarn/Frankreich) aufgenommen. Nachdem Bourdieu Mitte der 50er Jahre als Soldat im Algerienkrieg eingezogen wurde, unternahm er - erschüttert durch die systematische Zerstörung der algerischen Kultur durch das französische Kolonialregime - erste autodidaktische Feldforschungen in der Kabylei. Mittels ethnologischer Forschungsmethoden versuchte Bourdieu die dortige Gesellschaft in ihren konkret gelebten Realitäten, kulturellen Eigenheiten und gesellschaftlichen Erfahrungen zu verstehen und für die Menschen zuhause in Frankreich nachvollziehbar zu machen.

Noch während des Militärdienstes beginnt er mit der Arbeit an seinem ersten Buch Sociologie de l’Algérie (1958). Zwischen 1958 und 1959 arbeitet Bourdieu als Assistent für Philosophie an der Faculté des Lettres an der 1879 gegründeten Universität von Algier. Während dieser Zeit nahm Bourdieu bereits mehrere tausend Fotos auf. Der Blick durch das Objektiv seiner Kamera erlaubte es ihm, wie er berichtete, die beobachteten sozialen Praktiken und kulturellen Phänomene kritisch-distanziert zu objektivieren und wie durch eine Konversion seines Blicks auf diese fremde Sozialwelt auch zu einer reflexiven Distanz zu seiner angestammten französischen Alltagswelt zu gelangen. Zugleich ging es ihm darum, die Werte und Vorstellungen der von der Gewalt des Kolonialsystems bedrohten algerischen Gesellschaft zu dokumentieren und mittels seiner fotografischen Soziologie vor dem Vergessen zu schützen. Dabei liegt der Fokus seines Blicks auf den verschiedensten ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Formen der kolonialen Gewalt und der kulturellen Enteignung der Algerier. Diese visuelle Spurensicherung führt dem Betrachter den Zusammenbruch familiärer Strukturen, die Folgen massenhafter Arbeitslosigkeit und verallgemeinerter Prekarität vor Augen. Insbesondere aber ging es Bourdieu darum, die sich in einem gebrochenen Habitus der entwurzelten Menschen äußernden Folgen eines brutalen Clash of Civilisations im Bild festzuhalten.
Diese fotografischen Zeugnisse, hier erstmals voll umfänglich öffentlich, öffnen den Blick auf eine lange Zeit ignorierte Seite des Bourdieu‘schen Oeuvre und stehen in enger Wechselbeziehung und Komplementarität mit seinen seit langem intensiv rezipierten ethnografischen und sozialtheoretischen Studien aus der Frühzeit seines Schaffens:
„Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, (…). Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn praktiziert habe, hat als Begleiterin zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen (…)"[Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, 2009, UVK Konstanz, S. 11]
Die Ausnahmesituation in Algerien hat Bourdieus Blick auf das Gesellschaftliche nachhaltig geschärft. Anhand seiner diversen Veröffentlichungen lässt sich nachvollziehen, wie intensiv er diese fotografischen Zeugnisse immer wieder, auch noch Jahrzehnte nach den Erfahrungen in Algerien, in seinen soziologischen Studien als Inspirationsquelle verwendet hat. Die Fotografie half ihm beim »Generieren von Fragen« und »Konstruieren von Gegenständen« und gab wichtige Impulse für weitere Forschungen.
Die fotografischen Zeugnisse wurden in gewisser Weise zu einer Art visuellem Notizbuch und ermöglichten Bourdieu neben der systematischen Erkenntnisgewinnung und Spurensicherung auch eine Annäherung an die Menschen, die sich von ihm fotografieren ließen und im Gegenzug ihre Porträts erhielten. Der Mehrwert der fotografischen gegenüber schriftlichen "Feldnotizen" dürfte u.a. darin liegen, dass die visuellen Zeugnisse den Betrachter an er festgehaltenen Situation partizipieren lassen und in ihren Aussagen sinnlich-konkret einfach „lesen“ lassen. Wichtiger aber noch dürfte sein, dass die fotografischen Zeugnisse ja immer zeitgleich durch schriftliche Feldnotizen begleitet wurden und beide Formen der Feldforschung eine untrennbare Gesamtheit bilden. Darüber hinaus verdient es hier der Erinnerung an Bourdieus vielfältige wissenschaftliche Gebrauchsweisen der Fotografie:
„Fotografie diente ihm also sowohl als Instrument, Methode und Erkenntnismittel seines Forschens und wurde dann zum Ausgangspunkt einer sukzessiven Ausweitung seiner »visuellen Soziologie« auf den Bereich der Forschung »über« Fotografie in seiner bekannten Studie »Eine illegitime Kunst« bis hin zum ausgiebigen und systematischen Einsatz visueller Dokumente in seiner Revue Actes de la Recherche en Sciences Sociales oder Werken wie »Die feinen Unterschiede«“ [Mit dem Objektiv sehen: Im Umkreis der Photographie - Ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Franz Schultheis, Collège de France, Paris, 26. Juni 2001]. Dadurch, dass Bourdieu die Fotografie aktiv und systematisch als Teil seiner Forschungskonzepte zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Phänomene nutzte und sie konsequent als Instrumente wissenschaftlicher Forschung einsetzte, erweiterte er das Forschungsrepertoire der Sozialwissenschaften um originär empirisch-fotografische Bildpraktiken.
Diese visuelle Komponente des Bourdieu'schen Werks - eines der prominentesten in den Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts - konnte bis heute - da nur ein Bruchteil seines Fotoarchivs und der umfangreichen mit ihm korrespondierenden Dokumente im Archiv Pierre Bourdieu an der Université de Condorcet in Paris zugänglich waren - noch nicht angemessen gewürdigt werden. Der öffentliche Zugang zum Archiv ermöglicht es nun, die für sein Werk kennzeichnende intensive Verschränkung visueller und diskursiver Zugänge im Detail zu rekonstruieren. Denn seine Bilder sind nicht ohne die sie begleitenden theoretischen Beschreibungen und Analysen zu lesen und seine Theorien wiederum basieren so stark auf dem systematischen Gebrauch der Bilder, dass es sich lohnt diesen dyadischen Zusammenhang künftig stärker in den Blick zu nehmen.